Wang Xiangzhai (1886-1963) stammte aus dem Distrikt Shenxian in der Provinz Hebei. Er begann im Alter von acht Jahren seine Ausbildung in Xingyiquan bei dem legendären Meister Guo Yunshen. Bereits hier lernte er als wichtig erachten, was später auch im Zentrum seines eigenen Systems, Yiquan, stehen sollte: Zum einen, dass es in der Kampfkunst auf die Essenz, auf den Inhalt ankommt, nicht aber auf das äußere Erscheinungsbild: Ob eine Bewegung entweder als besonders schwierig, als höchst spektakulär oder als von außerordentlicher Schönheit beschrieben wird, ist im Hinblick auf ihren Nutzen in der Kampfkunst nicht nur uninteressant, sondern macht in aller Regel ihre Untauglichkeit für diesen Zweck deutlich. Und zum anderen, dass Zhanzhuang, die Standübung, die Basis nicht nur für den Erhalt der Gesundheit, sondern auch für den Erwerb von Kampfkunstfähigkeiten ist.
Wang wurde einer der besten Schüler von Guo Yunshen. Er wurde von ihm tief in die Kenntnisse des Xingyiquan eingeweiht und mit den Geheimnissen dieser Kunst vertraut gemacht, insbesondere auch was die Stehen-wie-ein-Baum-Übungen anbelangte, Zhanzhuanggong. Einige berichten sogar, dass Guo Yunshen sein ganzes Wissen ausschließlich an Wang Xiangzhai weitergegeben haben soll.
Armeezeit und Wanderjahre
Auf der Suche nach Arbeit ging Wang in seinem 22. Lebensjahr nach Peking und erlangte dort schließlich den Posten als Leiter der Abteilung für Kampfkunst in der Armee. Hier hatte er Kontakt zu berühmten und angesehenen Kämpfern seiner Zeit. Im Alter von 33 Jahren brach Wang zu einer siebenjährigen Wanderschaft durch China auf, um seine Kenntnisse und Fähigkeiten in der Kampfkunst zu erweitern und zu vertiefen. In diesen Jahren traf er auf viele bedeutende Kampfkünstler seiner Zeit und hatte Kontakt mit den verschiedensten Stilrichtungen. Diese Jahre waren eine Art Reifungsprozess hin auf dem Weg zur Entwicklung seines eigenen Systems.
Yiquan
Yiquan, die von Wang Xiangzhai entwickelte Gesundheits- und Kampfkunstmethode, wurde um 1925 herum öffentlich. Zu dieser Zeit unterrichtete Wang Xingyiquan in Peking und stellte missbilligend fest, dass seine Schüler sich viel zu sehr an der äußeren Form festhielten, darüber aber die Inhalte vernachlässigten. In der Kampfkunst (und für den Bereich der Gesundheitspflege ist das nicht anders) sind es aber gerade die Inhalte, auf die alles ankommt. Das hatte ihn eindringlich genug Guo Yunshen gelehrt. Wang änderte daher seinen Unterrichtsstil: Er stellte Zhanzhuang- und Shili-Übungen ins Zentrum seines Unterrichts. Damit war Yiquan aus der Taufe gehoben. Bis etwa in die Zeit um 1940 hinein entwickelte Wang sein System weiter und feilte es aus.
Bewährung in der Praxis
Die Tauglichkeit von Yiquan als Kampfkunst haben Wang Xiangzhai und seine Schüler unzählige Male bewiesen. Unter den vielen nennenswerten Ereignissen seien die Folgenden beispielhaft herausgegriffen:
- 1928 fand in China einer der größten Wettbewerbe in der chinesischen Kampfkunstgeschichte statt. Dieses Turnier wurde von Wangs Schüler Zhao Daoxin gewonnen.
- Etwa um 1940 herum, zur Zeit der Besatzung Chinas durch Japan im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg (1937-1945), forderte Wang Xiangzhai Kampfkünstler aller Schulen auf, sich ihm zu stellen und sich mit ihm zu messen. Viele Kämpfer kamen dieser Aufforderung nach, unter ihnen auch Europäer und Japaner. Keiner von ihnen konnte Wang besiegen.
- Unter den europäischen Herausforderern war auch ein ungarischer Boxweltmeister namens Inge, der von Wang im Moment des Kontakts durch eine kleinste Handbewegung zu Boden geworfen wurde. Über diese eindrückliche Erfahrung schrieb der Weltmeister anschließend einen Artikel, der in der Londoner „Times“ erschienen sein soll. In ihm soll er sich sehr respektvoll der chinesischen Boxkunst gegenüber ausdrücken.
- Unter den japanischen Kämpfern, die sich mit Wang messen wollten, war auch ein hoch dekorierter Kampfkünstler namens Kenichi Sawai. Er wurde ein Schüler Wangs und machte Yiquan, nachdem er es gewissen Änderungen unterzogen hatte, unter dem Namen Taikiken in Japan bekannt. Kenichi Sawai berichtet in seinem Taikiken-Buch von seiner Begegnung mit Wang Xiangzhai. Er berichtet, dass er im Moment des Kontakts mit Wang durch die Luft geschleudert wurde. Immer wieder habe Wang im Moment des Kontakts Kontrolle über ihn gewonnen und ihn weggestoßen. Dabei habe er ihm seine Hand oberhalb des Herzens auf die Brust aufgelegt, was einen so noch nie erlebten, Angst auslösenden Schmerz verursachte, der sich wie eine Art Herzzittern ausnahm. („Each time I was thrown, he tapped me lightly on my chest just over my heart. When he did this, I experienced a strange and frightening pain that was like a heart tremor.“ Der Text ist hier zugänglich. Die Textstelle findet sich auf Seite 5.)
Yiquan als Gesundheitsmethode
Neben der Entwicklung von Yiquan als Kampfkunst wurde Yiquan aber auch als Methode zum Erhalt und der Verbesserung der Gesundheit immer weiter verfeinert. Eine wissenschaftliche Ausarbeitung von Prof. Yu Yongnian, einem Schüler Wangs, der sich mit ihm vor allen Dingen der gesundheitsbezogenen Seite von Yiquan widmete, legte den gesundheitlichen Wert der Zhanzhuang-Methode dar. Nachdem diese Arbeit den Behörden vorgelegt worden war, wurden die Zhanzhuang-Übungen in vielen Kliniken Chinas eingeführt.
Wang Xiangzhai war nicht nur ein herausragender Qigong- und Kampfkunstmeister, sondern auch in der Dichtkunst, in Kalligraphie und Malerei für sein Talent und sein Können bekannt. Seine Lehre hat er seinen Schülern in zahlreichen Gedichten hinterlassen. Spirituelle Traditionen des Chan-Buddhismus und des Daoismus haben ihn geprägt und auf ihre Weise Yiquan beeinflusst. Wang Xiangzhai starb am 12. Juli 1963 in Tianjin. Als Nachfolger hatte er seinen Schüler Yao Zhongxun bestimmt. Mit dessen Tod im Jahr 1985 ging die Tradition auf seine beiden Zwillingssöhne über, Yao Chengrong und Yao Chengguang. Einer ihrer direkten Schüler ist Jumin Chen.
(Quelle: Jumin Chen, Yiquan; Jan Diepersloot, The Tao of Yiquan)